Mary Shelley. Der letzte Mensch
Einleitung
Lass nicht den Menschen im Voraus erfahren,
Was ihn und seine Kinder einst bedrohen soll.
Milton, Das verlorene Paradies.
Mary Shelley, geboren 1797, veröffentlichte mit nur 21 Jahren einen der berühmtesten Romane der Literaturgeschichte: Frankenstein. Als Ehefrau des Dichters Percy Shelley nahm die Öffentlichkeit sie lange als Schriftstellerin nicht zur Kenntnis.
Ihr 1826 veröffentlichte Roman Der letzte Mensch ist weniger bekannt und wurde erst 1983 in deutscher Sprache veröffentlicht.
Inhalt
Mary Shelley berichtet von einer fiktiven Schrift, die sie in der Höhle der Sybille findet. Diese fiktive Schrift wird die Basis ihrer Erzählung über Lionel Verney, der vom Aussterben der Menschheit berichtet.
Nach dem sozialen Abstieg seines Vaters lebt Lionel Verney mit seiner jüngeren Schwester Perdita in Armut. Aus Verbitterung akzeptiert er nur das Gesetz des Stärkeren, führt ein unbeständiges Leben und weigert sich anderen unterzuordnen.
Er trifft auf Adrian, den Sohn des ehemaligen Königs, der seinem Leben der eine neue Wendung gibt. Lionel beginnt „ein Mensch zu werden“, denn Adrian regt seinen Appetit auf Wissen an, bildet und fördert ihn.
In der ersten Hälfte des Romans ist von einer Pandemie, die die Menschheit auslöscht, noch nichts zu erahnen.
Der erste Teil beschreibt Liebesdramen und verklärt das Ideal der romantischen Liebe, einer Liebe, die „ewig“ fortbesteht. Über Umwege finden die Liebespaare zueinander. Der ehrgeizige Lord Raymond heiratet Perdita, die Schwester von Lionel und Lionel wird Adrians Schwester Idris heiraten. Die Freunde leben glücklich zusammen und führen ein idyllisches und traumhaftes Leben. Noch ahnt niemand etwas von der bestehenden Katastrophe.
Doch dieses idyllische Leben bekommt erste Risse, als Lord Raymond seiner ehemaligen Geliebten Evadne begegnet.
Adrian und Raymond verlassen England und beteiligen sich am Unabhängigkeitskrieg der Griechen gegen das Osmanische Reich. Mary Shelley idealisiert den Unabhängigkeitskrieg der Griechen und Lord Raymond als Freiheitskämpfer. Er stirbt bei einer Explosion in Konstantinopel und Perdita nimmt sich das Leben, um neben ihm beerdigt zu werden.
Mit dem Ausbruch der Pest beginnt der zweite Teil der Handlung. Von Konstantinopel breitet sich die Pest über ganz Europa und die gesamte Welt aus. Die Pest bricht in weit entfernten Teilen der Welt aus und die Menschen in England haben zunächst das Gefühl, man würde davon nicht betroffen sein. In der Naivität glauben sie, das Meer werde England vor der Pest schützen, obwohl man weiter Handel mit der ganzen Welt betreibt und Schiffe aus der ganzen Welt in London eintreffen.
Shelley beschreibt anschaulich die Folgen der Pest und den Zusammenbruch der Zivilisation und staatlichen Ordnung. Die Menschen emigrieren aus Not nach England, als vermeintlich letzten sicheren Zufluchtsort. Es kommt zu Hungersnöten. Zunächst versuchen die Menschen in der Katastrophe, Normalität vorzutäuschen, und es werden die bestehenden Machtverhältnisse zementiert. Doch dann spielen Standesunterschiede keine Rolle mehr. Es geht ums nackte Überleben. Es bilden sich Banden, und es gilt das Recht des Stärkeren.
Mit der Angst entstehen irrationale Erklärungen und Wahnvorstellungen. Ein selbsternannter Führer predigt einen religiösen Fundamentalismus und verspricht den Menschen das Überleben, wenn sie ihm nur bedingungslos folgen.
Gleichzeitig idealisiert Shelley die Hilfsbereitschaft von Adrian und Lionel. Die noch zuletzt bestehende Hoffnung weicht der Hoffnungslosigkeit und sie erkennen die Nutzlosigkeit ihres Tuns. Die letzten Überlebenden verlassen unter der Führung von Adrian England. Ein Auszug aus England in ein neues vermeintliches Paradies.

Der Süden ist die angestammte Heimat der Menschheit, das Land der Früchte dem Menschen dankbarer als der hart erarbeitete Ackerbau des Nordens, – die Heimstatt von Bäumen, deren Äste wie ein Palastdach sind, von Betten aus Rosen und durstlöschenden Trauben. Dort müssen wir weder Kälte noch Hunger fürchten.4
Dem letzten Überlebenden der Menschheit, Lionel, ereilt ein Schicksal, wie Robinson Crusoe. Er landet als Schiffbrüchiger auf einer Insel.
Zusammenfassung
Mary Shelley verwendet zahlreiche Episoden aus ihrem Leben. Ihren früh verstorbenen Ehemann Percy Shelley idealisiert sie in der Person von Adrian. Lord Raymond ist unverkennbar Lord Byron, mit dem Shelley befreundet war. Der Roman ist ein literarisches Denkmal. Mit dem Roman verarbeitet sie den Tod der beiden ihr nahestehenden Menschen und den frühen Tod ihrer Kinder.
Der Roman spielt etwa im Jahr 2073 und enthält im Vergleich zu Frankenstein nur wenige Science-Fiction-Elemente. Der einzige technische Fortschritt ist ein steuerbarer Heißluftballon als Transportmittel.
Shelley rezipiert allerdings die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Französische Revolution und die demokratische Entwicklung in den USA. In ihrem Roman dankt der englische König ab und im Gegensatz zur Französischen Revolution verläuft hier der Übergang zur Republik friedlich. Hingegen bleibt der Interessengegensatz zwischen Royalisten und Republikanern bestehen.
Der Pesterreger wurde erst 1894 entdeckt und war bei Erscheinen des Romans noch nicht bekannt. Interessant ist die Einstellung von Mary Shelley zum Fortschritt und zur Natur. Sie verhält sich skeptisch gegenüber dem Fortschrittsglauben der Aufklärung, wie auch der Idealisierung der Natur in der Romantik, als Gegenpol zur Technik.
Sie erkennt den technischen Fortschritt und die Beherrschung der Natur an.
Die Lebenskünste und die Entdeckung der Wissenschaft hatten in einem Verhältnis zugenommen, das alle Hochrechnungen übertraf; inzwischen entstand Nahrung sozusagen spontan – es existierten Maschinen, die jeden Bedarf der Bevölkerung mit Leichtigkeit versorgten.1
Doch Shelley erkennt, dass technischer Fortschritt nicht gleich gesellschaftlicher Fortschritt bedeutet.
Das Böse hatte freilich überlebt; und die Menschen waren nicht glücklich,2
Die Überzeugung des Menschen, die Natur zu beherrschen, wird von der Pest zerstört und zeigt seine Ohnmacht.
Die Natur, unsere Mutter und unsere Freundin, blickte uns drohend an. Sie zeigte uns deutlich, dass sie uns zwar erlaubte, ihre Gesetze anzuerkennen und uns ihren sichtbaren Kräften zu unterwerfen, doch wenn sie nur einen Finger höbe, müssten wir beben.3
Bereits vor Shelley veröffentlichte Daniel Defoe seinen Roman Die Pest von London. (Autor des Romans: Robinson Crusoe). Weltuntergangsszenarien bestehen seit der Bibel mit der Apokalypse. In Mary Shelleys Roman geht die Welt unter, ohne eine göttliche Vorherbestimmung. Shelleys Dystopie war zu ihrer Zeit nicht unrealistisch. Während der Pest von 1348 bis 1353 starben schätzungsweise ein Drittel der Menschen in Europa.
Wegen des sperrigen Schreibstils ist dieser Roman kein leichter Lesestoff. Dies trifft besonders auf den ersten Teil des Romans zu und verlangt dem Leser einiges ab. Im zweiten Teil gewinnt die Handlung an Tempo. Als Roman der Romantik ist die Sprache pathetisch, affektiert und enthält wenige Elemente der Schauerliteratur.
Die Anmerkungen von Irina Philippi vereinfachen das Verständnis des Textes. Der Roman endet mit einem Nachwort von Rebekka Rohleder und einem Essay von Dietmar Dath.
1) Mary Shelley. Der letzte Mensch. Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen von Irina Philippi. Durchgesehen und mit einem Nachwort von Rebekka Rohleder. Mit einem Essay von Dietmar Dath. Reclams Klassikerinnen.
S. 127
2) ebenda, S. 127
3) ebenda, S. 270
4) ebenda, S. 376
