
Rachel Kushner. See der Schöpfung
,erinnert man sich zwangsläufig an einen Frederic Jameson und Slavoj Žižek zugeschriebenen Satz: >>Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.<< Dieser Slogan fasst treffend zusammen, was ich unter >>kapitalistischen Realismus<< verstehe: das weitverbreitete Gefühl, dass der Kapitalismus nicht nur das einzige gültige politische und ökonomische System darstellt, sondern dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen.3
Einleitung
Rachel Kushner kam am 7. Oktober 1968 in den USA in Eugene, Oregon, zur Welt. 2018 stand sie mit ihrem Roman The Mars Room (Ich bin ein Schicksal), der die Zustände in einem Frauengefängnis schildert, auf der Shortlist des Man Booker Prize.
Inhalt

Wäre die Welt besser, wenn der Neandertaler nicht ausgestorben wäre und sich gegenüber dem Homo sapiens behauptet hätte? Diese abwegige Frage stellt sich die Hauptperson Bruno Lacombe, der in dem Roman „unsichtbar“ bleibt. Die Agentin Sadie Smith liest die Mails seines gehackten E-Mail-Accounts. Bruno Lacombe ist die Leitfigur einer Kommune, die gegen den Bau eines Wasserbassins Widerstand leistet. Die privatwirtschaftliche Versorgung mit der lebenswichtigen Ressource Wasser soll die Profite privater Unternehmen steigern. Sadie Smith sucht Hinweise, ob Bruno mit der Kommune Sabotageakte gegen das neu zu bauende Wasserbassin plant.
Für Lacombe ist die Misere der heutigen Gesellschaft der Erfolg des Homo sapiens gegenüber dem Neandertaler, den er für einen Künstler und für den „wahren“ Menschen hält. Nebenbei erfährt der Leser einige Fakten über den Neandertaler: Er besaß eine große Hirnschale und einen robusten, wärmeerhaltenden Körperbau. Einige neigten zur Rothaarigkeit.
Mit seiner Zivilisationskritik lehnt Lacombe die staatliche und wirtschaftliche Ordnung ab. Also wählt er den Rückzug aus der Zivilisation und lebt in einer Höhle. Der Rückzug aus der Zivilisation hängt auch mit dem Unfalltod seiner Tochter zusammen. Als ehemaliger 68er ist er desillusioniert und glaubt nicht mehr an die Veränderung des Kapitalismus und sieht die Lösung unserer heutigen Probleme in der Vergangenheit. Ziel kann es nur sein, die Essenz des Menschen wiederherzustellen, das, was das Menschsein ausmacht. Existiert eine menschliche Essenz? Oder besitzt der Mensch keine vorgegebenen Eigenschaften, sondern erst seine Handlungen im Laufe seines Lebens gestalten sein Wesen? Mit seinen esoterischen Ansichten und romantischen Vorstellungen will Lacombe die Entfremdung zwischen der Natur und dem Menschen schließen. Die eigene Lebenserfahrung gegenüber der wissenschaftlichen Erkenntnis vorziehen. Brunos Erkenntnis ist zwar richtig.
Die grundlegende Idee ist die, dass es überall Menschen gebe, die bereit sein könnten, die durch ihr Kommerzialisierung Leben im Spätkapitalismus erfahrene Kränkung zurückzuweisen, und dass diese Menschen sich zuerst und vor allem gegenseitig finden müssen2
Ein Zusammenspiel aus Esoterik und reaktionärer Naturromantik und die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit führen in Nullkommanichts zu einer reaktionären Gesellschaftsvorstellung.
Sadie ist keine sympathische Person, im Gegensatz zum Idealisten Bruno. Die ehemalige FBI Agentin ist eine Zynikerin, die nicht viel von den Menschen erwartet. Sie ist fasziniert vom Krieg, Leid,Tapferkeit und besitzt die vorteilhaften Eigenschaften einer Undercover-Agentin: kalt, arrogant und hinterhältig. Als Agent provocateur drängt sie die Kommune zu gewalttätigen Aktionen, damit die Polizei Razzien durchführt und missliebige Aktivisten verhaftet. Um die Kommune zu infiltrieren, plant sie ihr Vorgehen exakt. Sie geht eine Scheinbeziehung mit dem Filmregisseur Lucien ein, der ihr den Kontakt zu der Kommune verschafft.
Die Kommune glaubt, mit politischen Aktionen, das Gesellschaftssystem zu ihren Gunsten zu verändern. Ihr Landleben wird zu einem Protest gegen das Stadtleben, gegen die staatliche Ordnung und gegen die aktuelle Lebensweise. Eine typische Kommune mit landwirtschaftlicher Selbstversorgung, eigener Werkstatt und einer antiautoritären Schule. Doch erinnert die Kommune auch an ein Kloster mit höher- und niederrangigen Mönchen. Pascal Balmy, der Gründer der Kommune, stammt aus der Pariser Oberschicht. Er kann in der Kommune seinen elitären Habitus nicht ablegen.
Der Unterminister in dem Roman repräsentiert und verteidigt den gesellschaftlichen Status quo. Aus diesem Umfeld stammen die Auftraggeber von Sadie Smith. Auf der Landwirtschaftsmesse kommt es mit dem Erscheinen des Unterministers zum Showdown.
Am Ende orientiert sich Sadie Smith neu und Bruno zweifelt an seinen bisherigen Überzeugungen.
Zusammenfassung
In dem Roman trifft die Amerikanerin Sadie Smith auf die „europäische und französische Kultur“, die sie mitleidig belächelt. Der Roman enthält zahlreiche Hinweise auf die französische Kultur und Geschichte. Vorbild für die Kommune ist der Widerstand der Landbevölkerung in der Normandie gegen den Bau eines Flughafens. Der im Roman auftretende Schriftsteller erinnert an Michel Houellebecq und Pascal Balmy, der Gründer der Kommune, sieht sich als „Wiedergeburt“ von Guy Debord.
Durch langatmige Passagen entwickelt sich keine richtige Spannung und die Handlung nimmt erst auf den letzten 150 Fahrt auf. Spannung entsteht durch das Aufeinandertreffen von Menschen mit konträren Lebensmodellen.
Der Roman beschreibt das Unbehagen der Menschen am Kapitalismus und ihre Hilflosigkeit, Alternativen zu finden.
wir steigen wir da aus?1
Bruno Lacombe lebt in einer dunklen Hölle, und dies erscheint wie das umgekehrte Höllengleichnis von Platon. Bruno erkennt in der Dunkelheit die „Wirklichkeit“. Er sieht in der Dunkelheit Farben.
Vielleicht brauchen wir eine „dunkle Höhle“, um in einem Zeitalter der fehlenden Alternativen wieder klarer zu sehen. Wir sind nicht in der Lage, die vielen Informationen zu verarbeiten und die relevanten Informationen zu erkennen. Dies führt zu einer Entscheidungsunfähigkeit und zunehmender Verunsicherung. Unsere „dunkle Höhle“ ist, die Nutzung der digitalen Medien zu reduzieren, um sich wieder einen eigenständigen Überblick zu verschaffen.
Popmusik: Daft Punk und Guns N‘ Roses
Daft Punk
Im Taxi vom Bahnhof zum Hotel spielt der Taxifahrer Get Lucky von Daft Punk, und diesen Song hört Sadie Smith noch einmal auf dem Strand von Marseille.
Daft Punk war ein House-Musik-Duo und wurde 1993 von Thomas Bangalter und Guy-Manuel de Homem-Christo gegründet. Mit ihrer elektronischen Tanzmusik gehören sie zu den erfolgreichsten französischen Künstlern der letzten Jahrzehnte. Seit dem Jahr 1999 traten beide nur noch mit Roboter-Helmen auf und gaben nur selten Interviews.
Der Song Get Lucky erschien 2013 auf dem vierten und letzten Album Random Access Memories, und unterstützt von einer altmodisch wirkenden Fernsehwerbung wurde es 2013 zu einem der erfolgreichsten Alben.
Auf der LP existieren zahlreiche Hinweise auf den Sound der 70er Jahre. Verzichtet wurde fast vollständig auf Sample, und die LP wurde mit der Beteiligung eines Orchesters in einem Studio eingespielt. Das ganze Album ist eine Hommage an den Disco-Sound der 70er Jahre. Schließlich liegen die Wurzeln der elektronischen Tanzmusik auch im Disco-Sound. Get Lucky ist ein einfacher, schöner Popsong und ein perfekter Tanzsong für die Disco. Im Song sind die Lebensfreude und der Optimismus nicht zu überhören.
We’re up all night ‚til the sun
We’re up all night to get some
We’re up all night for good fun
We’re up all night to get lucky7
An der LP waren zahlreiche Gastmusiker beteiligt, die den Sound der 70er Jahre prägten. Der Gitarrenpart zum Song Get Lucky stammt von Nile Rodgers, dem Mitbegründer der Discoband Chic. Den Gesangspart übernahm der Rapper und Musikproduzent Pharrell Williams. Die Stimme wird natürlich durch einen Vocoder verfremdet. Pharrell Williams schuf zusammen mit dem Komponisten Hans Zimmer die Musik zu dem Animationsfilm Ich – Einfach unverbesserlich.
Für den Popjournalisten Simon Reynolds wäre dieses Album sicher ein Beispiel für Retromania4: die Rückbesinnung auf die Musik der Vergangenheit und das Recycling alter Musik, das zu einer ununterbrochenen Wiederholungsschleife führt.
In dem Track Giorgio by Moroder ist ein Interviewauschnitt mit Giorgio Moroder zu hören, dem Pionier der elektronischen Tanzmusik in den 70er Jahren.
Im letzten Song Contact hören wir die Stimme von Eugène Cernan, der als letzter Mensch 1972 den Mond betrat.
Ein weiterer großer Hit des Duos Daft Punk war One More Time. 2021 löste sich das Duo auf.
Guns N’ Roses
Auf der Landwirtschaftsmesse in dem Roman spielt eine Coverband Guns N’ Roses Used to Love Her. Guns N’ Roses ist eine US-amerikanische Hard-Rock-Band, mit dem Leadsänger Axl Rose, die 1985 in Los Angeles gegründet wurde. Die Band gehörte zu den weltweit erfolgreichsten Bands mit 40 Millionen verkauften LPs.
Der Song Used to Love Her erschien auf der zweiten LP G N’ R Lies mit einem frauenfeindlichen Plattencover. Frauenfeindlich ist auch der Song Used to Love Her.
I used to love her, but I had to Kill Her
I used to love her, mm, yeah, but I had to Kill her5
Der LP-Titel G N’ R Lies ist Programm. Es ist keine Live-LP. Die Liveatmosphäre wurde nachträglich hinzugefügt. Genaugenommen handelt es sich nur um eine halbe neue LP, denn die LP enthält vier Songs, die bereits auf der LP Live ?!@ Like a Suicide erschienen. Die Stimme von Axl Rose finde ich auf diesem Album eher nervig.
Bemerkenswert für eine Hard-Rock-Band sind die Songs mit Akustikgitarren. Der letzte Track auf dem Album One in a Million ist ein schöner Folksong mit rassistischen Aussagen.
Immigranten and faggots, they make no sense to me
They come to our country, and think they’ll Do as they please
Like Start some mini-Iran, or spread some fucking disease.6
Der Text unterstellt Migranten, sie übertragen Krankheiten, wahrscheinlich eine Anspielung auf AIDS. Die Band durfte deswegen nicht an einem Benefizkonzert für AIDS-Betroffene teilnehmen. Axl Rose bestritt, ein Rassist zu sein, und die Band behauptete, der Song sei missverstanden worden. In späteren Kompilationen wurde dieser Song jedoch nicht aufgenommen.
Der (Rock-)Soziologe Rainer Sontheimer stellte die provokante Frage, ob Hörer der Metalmusik die schwarze Seite des Spießbürgertums8 vertreten, da Metalmusik in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei. Diese provokative Frage gilt auch für Hard-Rock-Bands, denn das antibürgerliche Auftreten einiger Bands entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Pseudorebellion mit konservativen und manchmal reaktionären Sichtweisen.
1) Rachel Kushner. See der Schöpfung. Rowohlt Verlag. 4. Auflage 2025. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell.
S. 38
2) ebenda, S. 188
3) Mark Fisher. Kapitalistischer Realismus ohne Alternative. Eine Flugschrift. Mit einem Nachwort zur deutschen Ausgabe. Aus dem Englischen von Christian Werthschulte, Peter Scheiffele und Johannes Springer. VSA Verlag 2013.
4) Simon Reynolds. Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann. Aus dem Englischen von Chris Wilpert. Ventil Verlag.
5) Genius. Guns N’ Roses. Used to Love Her.
6) Genius. Guns N’ Roses. One in a Million.
7) Genius. Daft Punk. Get Lucky.
8) Rainer Sontheimer. Die schwarze Seite des Spießbürgertums: Heavy Metal als reflexiv-moderner Konservatismus? https://www.researchgate.net/publication/321076058_Die_schwarze_Seite_des_Spiessburgertums_Heavy_Metal_als_reflexiv-moderner_Konservatismus