
Jens Balzer. After Woke
>>Die >woke< Linke ist im Eimer<<7
muss man all jenen konservativen und reaktionären Stimmen widersprechen, die nach dem 7. Oktober triumphal das Ende jeder Art von >>Wokeness<< erklären……1
Einleitung
Terroranschlag
Hamas-Terroristen verübten am 7. Oktober 2023 ein Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung. Sie filmten mit Bodycams, wie sie ihre Opfer ermordeten, vergewaltigten und schickten mit den Mobiltelefonen der Opfer Fotos an die Angehörigen. Für sie waren die Opfer keine Menschen, und dies rechtfertigte jede Grausamkeit.
Das gleichzeitig stattfindende Massaker auf dem Technofestival Supernova war kein Zufall. Es war ein Angriff auf eine bestimmte Lebensart. Auf die Feier des Lebens junger Menschen. Die Entführten wurden gefoltert oder starben in Geiselhaft.

Reaktionen auf den Terror
Nach diesen unbeschreiblichen Grausamkeiten hätte man eine weltweite Solidarität und Empathie mit den Angehörigen und Opfern erwartet.
Es kam anders – Menschen verteilten vor Freude Süßigkeiten auf der Sonnenallee in Berlin und feierten das Massaker.
Viele Intellektuelle und Kulturschaffende, die sich als Teil der emanzipatorischen Bewegung fühlen und die Werte des Humanismus wie eine Monstranz vor sich hertragen, billigten den Terroranschlag und die sexualisierte Gewalt als Teil eines Befreiungskampfes. Kulturschaffende, die eine diskriminierungsfreie Sprache fordern, reagierten gleichzeitig ablehnend auf die Bekämpfung von antisemitischen Stereotypen.
Warum zeigen diejenigen, die die Idee der Emanzipation verteidigen, keine Empathie mit den Opfern des Massakers, sondern Sympathie mit der Hamas, einer Organisation, die misogyne und autoritäre Herrschaftsansprüche vertritt? Wie ist dieser Widerspruch und selektive Humanismus möglich?
Den nach dem 7. Oktober auftretenden Antisemitismus befeuerten woke, postkoloniale und queer-feministische Gruppen mit ihren Boykottaufrufen gegen israelische Kulturschaffende.
Dieses falsche Abbiegen6 der Linken, wie es Dietmar Dath nennt, ist für Jens Balzer ein moralischer Bankrott der Linken.

Inhalt
Um diesen Widerspruch zu erklären, analysiert Jens Balzer vier soziologische Theorien, die nicht grundsätzlich antiisraelisch oder antisemitisch ausgerichtet sind, die aber für die antiisraelischen Positionen der woken, postkolonialen und queer-feministischen Szene mitverantwortlich sind: Critical Whitness Theory, Wokness, Postkoloniale Theorie und Identitätsfragen.
Critical Whitness Theory
Diese Theorie unternimmt einen Perspektivwechsel. Es stehen weniger die Menschen im Mittelpunkt, die von Rassismus betroffen sind, sondern Menschen, die für den Rassismus verantwortlich sind. „Schwarz“ und „Weiß“ in dieser Theorie stehen nicht für die Hautfarbe, sondern für Gruppen, die unter Rassismus leiden, und Gruppen, die für den Rassismus verantwortlich sind. „Weiße“ gelten grundsätzlich als privilegiert und sollen sich deshalb ihrer Schuld am Rassismus bewusst werden. Diesen Erkenntnisprozess sollen Therapien unterstützen: „Verleugnung, Schuld, Scham, Anerkennung, Wiedergutmachung.“8 Damit wird die Veränderung rassistischer Strukturen aufgegeben und die Verurteilung von Rassismus auf ein moralisches Bekenntnis reduziert: Jeder „Weiße“ muss jederzeit seine Schuld am Rassismus und Kolonialismus bekennen.
Nach dieser Theorie gehören Juden zu den „weißen“ Menschen. Das Juden auch zu Opfern rassistischer Diskriminierung werden können, ist in dieser Theorie nicht vorgesehen. Die falsche und gefährliche Schlussfolgerung: Der Staat Israel ist ein „weißer“ kolonialistischer Staat, der die „indigenen“ Palästinenser unterdrückt und vertreibt.
Wokeness
Der Begriff woke erscheint zum ersten Mal in dem Song Scottsboro Boys von Lead Belly. Er erzählt von schwarzen Jugendlichen, die mit falschen Beweisen wegen der Vergewaltigung einer weißen Frau in Alabama angeklagt und zum Tode verurteilt wurden. Lead Belly warnt.
>>So I advise everybody, be a little careful – best stay woke, keep their eyes open.<< 3
Dies ist nicht als politischer Slogan zu verstehen, sondern als eine Warnung an Schwarze in Alabama, wachsam zu bleiben, um nicht das eigene Leben zu gefährden.
1962 erschien in der New York Times ein Text von William Melvin Kelly mit der Überschrift If You’re Woke You Dig It.
Der Artikel beschreibt die Faszination der Weißen für die schwarze Kultur. Dies zeigte sich in der Übernahme von Slangwörtern, um sich von der weißen Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen, um cool zu wirken.
Für Kelly müssen die Schwarzen und Weißen Woke bleiben. Damit Weiße sich cool fühlen, müssen sie aufmerksam die Sprache der Schwarzen verfolgen. Was hier erfolgt, ist eine kulturelle Aneignung. Für Kelly jedoch kein Problem. Die Schwarzen werden andererseits gezwungen, sich weiterzuentwickeln, um ihre eigene kulturelle Identität hervorzuheben.
Dieses Weiterentwickeln und Wachsam sein, betont auch die R’n’B Sängerin Erykah Badu in ihrem Song Masters Teacher
I am in the search of something New/ (A beautiful world I’m trying to find)/Searchin‘ me/ Searching inside of you/And that’s fo‘ real/ [ …] / I stay woke4
Für sie bedeutet woke
Stay woke [wachsam bleiben] bedeutet einfach, auf alles zu achten, sich nicht auf das eigene Verständnis oder das eines anderen zu verlassen, zu beobachten, sich weiterzuentwickeln und alles hinter sich zu lassen, was sich nicht mehr weiterentwickelt.5
Mit anderen Menschen in Kontakt bleiben, um seine eigenen Ansichten ständig zu überprüfen und andere Ansichten nicht ungeprüft zu übernehmen, mit dem Ziel, gemeinsame Werte zu bestimmen. Wokeness bedeutet eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an dem gesellschaftlichen Diskurs und ist somit ein wichtiger Teil der liberalen Demokratie. Wokeness bedeutet, wachsam zu bleiben gegenüber der Diskriminierung anderer Menschen. Die Gegner der Wokeness planen, die liberale Demokratie zu beseitigen.
Wer sich als woke bezeichnet, muss sich an seinen eigenen Ansprüchen messen. Viele, die sich zu der woken Szene zählen, sind nach dem 7. Oktober 2023 ihren Ansprüchen nicht gerecht geworden. Die woke Linke geht für jede benachteiligte Gruppe auf die Straße und auf vielen Festivals gibt es Awareness-Beauftragte. Beim Antisemitismus nach dem 7. Oktober herrschte ein lautes Schweigen. Die konservative Presse hielt der woken Linken mit Häme, zu Recht, ihre Doppelmoral vor.
Postkolonialismus und Identitätsfragen
Der Postkolonialismus bezieht die Erzählungen von Menschen und Gruppen mit ein, die bisher nicht in der Geschichte des Kolonialismus vertreten waren. Dies verbindet ihn mit der Idee der Wokeness. Auch hier sollen bisher marginalisierte Gruppen ihre Perspektive miteinbringen. Auch hier erfolgt ein Perspektivwechsel. Der Kolonialismus wird aus der Perspektive der unterdrückten und ausgebeuteten Menschen erzählt.
Sehr eng mit dem Postkolonialismus sind Identitätsfragen verbunden. Der Verlust der kulturellen Identität durch den Kolonialismus und die Suche nach einer neuen Identität. Zunächst ist Identität positiv zu bewerten. Sich mit einzelnen Menschen, mit Gruppen oder mit einer Idee zu identifizieren. Dies gibt ein Gefühl von Zugehörigkeit und ist Voraussetzung für soziale Empathie. Gerade in einer immer unübersichtlicheren Welt wird das Gefühl, zu einer sozialen Gruppe zu gehören, immer wichtiger. Das ist eine Seite der Identität. Die Sängerin Poly Styrene der Punkband X-Ray Spex und die Tochter einer Britin und somalischen Vaters sang bereits 1978 auf dem Debütalbum Germfree Adolescents, dass Identitätsfragen das Leben verkomplizieren.
»Identity / is the crisis / can’t you see.«
Mit der zunehmenden unübersichtlicheren Welt nimmt der Wunsch nach überschaubaren und traditionellen Lebensformen zu. Ein Symptom ist die Idealisierung indigener Völker, denn sie verkörpern angeblich das Authentische, Ursprüngliche und repräsentieren den Widerstand gegen den Kolonialismus und die westliche Welt. Sie stehen für „ethnische“ und „kulturelle“ „Reinheit“. Die Folge ist ein manichäisches Weltbild und eine sehr oberflächliche, Welterklärung. Auf der einen Seite der „böse“ ausbeuterische Westen und auf der anderen Seite der „gute“, vom Westen ausgebeutete Globale Süden. Hier werden abgeschlossene Gruppen mit feststehenden Identitäten konstruiert, ohne die Widersprüche innerhalb dieser Gruppen zu analysieren.
Bei dieser oberflächlichen Analyse gehören Juden und der Staat Israel zum ausbeuterischen Westen und zu den Unterdrückern. Gegen diese „Unterdrücker“ ist anscheinend jede Widerstandsform legitim, und zusätzlich werden die antisemitischen Stereotype von den „Reichen und mächtigen Juden“ wiedergegeben. In dieser Weltsicht fehlt jedes Verständnis für Antisemitismus.
Zusammenfassung
Jens Balzer gibt eine kompakte Einleitung in die soziologischen Theorien, die aktuell den universitären Diskurs dominieren und die mitverantwortlich sind für die inhaltlichen Reaktionen auf den Theorieanschlag vom 7. Oktober 2023. Diese Theorien haben ihre Berechtigung, doch sollten sie einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Mit den Identitätsfragen nähert man sich gefährlich nahe rechtsradikalen Positionen.
Der Terroranschlag vom 7. Oktober führte zu einer tiefen Spaltung innerhalb der fortschrittlichen Kräfte. Umso wichtiger muss diese Spaltung schnell überwunden werden, denn antiliberale und rechtsradikale Gruppen mit ihren reaktionären Identitätsvorstellungen von Volk und Nation dominieren immer stärker den Diskurs.
Leadbelly
Leadbelly war ein amerikanischer Bluessänger mit einer kraftvollen Stimme. Er wurde am 20. Januar 1889 in Louisiana geboren und verstarb 1949. Obwohl er häufiger mit dem Gesetz in Konflikt geriet – er wurde wegen Raub und Mordversuch angeklagt und verurteilt –, beeinflusste er mit seinen Kontakten zu den Musikern Woody Guthrie und Pete Seeger die weiße Folkmusik. Seine Songs wurden von verschiedenen Künstlern gecovert.
Nirwana veröffentlichten 1993 ihr Album MTV Unplugged in New York. Das Stück Where Did You Sleep Last Night ist von Leadbelly beeinflusst.
Erykah Badu
Erykah Badu, 1971 in Texas geboren, ist eine amerikanische Soul-Sängerin mit Jazz-, Elektronik- und Hip-Hop-Anteilen.
Der Song Masters Teacher erschien 2008 auf dem vierten Studioalbum New Amerykah Part One (4th World War).
Es ist ein Konzeptalbum und behandelt die Lebenssituation afroamerikanischer Menschen, die unter Gewalt, Armut und Rassismus leiden, und beschreibt den Kampf um ihre kulturelle Identität.
Fertiggestellt wurde das Album im Electric Lady Studios. Ein von Jimi Hendrix in Auftrag gegebenes Studio, in dem viele bekannte Musiker ihre Alben produzierten.
X-Ray Spex
X-Ray Spex, 1976 in London gegründet, war eine ungewöhnliche Punkband. Charakteristisch war der gehetzte Gesang der Sängerin Poly Styrene, Marianne Joan Elliot-Said, die als Frau den männerdominierten Punk aufmischte. Sie war die erste schwarze Frau des britischen Punks. Ungewöhnlich war für eine Punkband auch die Besetzung mit der Saxophonspielerin Susan Whitby. Bereits 1979 löste sich die Band auf. Die Band veröffentlichte nur ein Album. Marianne Joan Elliot-Said wurde zum Vorbild für viele andere Musikerinnen.
Die Band verband Gesellschaftskritik mit Feminismus. So beginnt der bekannteste Song Oh Bondage! Up Yours! mit einer wütenden Kampfansage.
Some people think little girls should be seen and not heard/ But I think: Oh Bandage! Up yours! Manche Leute denken, Mädchen sollte man nur sehen können, nicht hören – aber ich denke: Schiebt euch eure Fesseln doch sonst hin!9
Eine Gesellschaft, die Frauen „Fesseln anlegt „, sie dominiert und ihre Bewegungsfreiheit einschränkt. Auch die Konsumgesellschaft legt den Menschen „Fesseln an“.
Chain-store Chainsmoke, I consume you all Chain-gang chainmail, I don’t think at all
Marianne Joan Elliot-Said verstarb mit nur 53 Jahren an Krebs.
1) Jens Balzer. After Woke. Matthes & Seitz Berlin.
S. 84 ff.
2) ebenda S. 5
3) ebenda S. 25
4) ebenda S. 28
5) ebenda S. 29
6) ebenda S. 86
7) Jungle World. 22. 08. 2024. Jens Balzer, Kulturjournalist und Buchautor, im Gespräch über sein Buch >>After Woke<<. Interview von Silvia Stieneker. Abgerufen am 8. Juni 2025
8) Taz. Weiß, Macht, Schwarz. Abgerufen am 12.April 2025
9) Deutschlandfunk Kultur. Archiv. Punk-Musikerin Poly Styrene. Jeder Song ein Weckruf. Von Diviam Hoffmann | 01.07.2022. Abgerufen am 15. Mai 2025.
Theodor W. Adorno. Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Aspekte des neuen Rechtsradikalismus.
Ermordung von 260 Festivalteilnehmern durch die Hamas. Die Clubszene schweigt. Pride (In the Name of Love)
Oktober 2023. Der Terroranschlag auf das Nova-Festival in Israel.
Antilopen Gang. Oktober in Europa.